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Romanfiguren und ihre ovidischen Vorbilder Techniken der Verbindung in Christoph Ransmayrs Die letzte Welt

Inhaltsverzeichnis

[ Naso ]
[ Cotta ]

Einleitung

Aus dem ursprünglichen Auftrag, Ovids Metamorphoses zeitgemäß neu zu übersetzen, entstand 1988 Die letzte Welt, ein Roman, der mit dem Thema der Verwandlung auf verschiedene Weisen spielt. Der antike Klassiker, der den meisten Lateinschülern aus Übersetzungsübungen bekannt sein dürfte, ist für Ransmayr eine allumfassende Vorlage. Dabei entsteht kein Remake, keine Neuerzählung der mythologischen Geschichten, sondern ein eigenständiges Werk, welches die Metamorphosen nicht nur als Vorlage und Bezugssystem benutzt, sondern selbst zum Handlungsraum wird.[1] Thomas Epple vergleicht den Aufbau der Letzten Welt mit dem Palimpsest-Verfahren: auf einem Pergament, von dem der Text abgeschabt wurde, einen neuen Text zu schreiben, wobei der alte Text noch immer sichtbar gemacht werden kann.[2]
Eine der zahlreichen Verknüpfungen ist die Wahl der Figuren in der Letzten Welt, mit der sich diese Arbeit beschäftigen soll.

Figuren der Letzten Welt und ihre ovidischen Vorbilder

Die Wahl der Figuren und ihre Charakterisierung in der Letzten Welt ist sehr unterschiedlich. Ransmayr verzichtet auf die Verarbeitung der wichtigsten Protagonisten aus den Metamorphosen wie Iuppiter, Diane, Minerva oder Apollo und wählt stattdessen Figuren aus diversen Episoden. Protagonist des Romans ist hingegen Cotta, der in den Metamorphosen gar nicht auftaucht, sondern von Ovid in seinen Briefen vom Schwarzen Meer genannt wird. Seine Stellung innerhalb des Romans soll ebenso betrachtet werden wie die des Dichters Ovid, der ebenfalls eine zentrale Rolle in der Letzten Welt spielt, in seinem Werk jedoch nur durch sein Vorwort und Nachwort Gestalt bekommt.

Figuren aus den Metamorphosen

Es lassen sich drei grundlegende Muster erkennen, nach denen die Figuren der Letzten Welt gestaltet sind. Einige von ihnen sind derart stark an ihr ovidisches Vorbild angenähert worden, dass man fast von einer Übertragung sprechen kann. Bei anderen Figuren kann man nur ein gemeinsames Moment in ihren Geschichten feststellen und wieder andere Figuren tragen nur den Namen aus dem reichhaltigen Schatz der ovidischen Mythen.

Weitgehende Ähnlichkeiten

Eine Figur, die fast vollständig übernommen wurde, ist Pythagoras. Ovid widmet ihm einen Großteil seines letzten Buches[3] und lässt ihn eine flammende Predigt gegen den Verzehr von Fleisch halten. Denn er glaubt, dass in jedem Lebewesen die Seele eines Menschen sitze[4]. Pythagoras wird von Ovid als Verkünder seiner Botschaft benutzt, der er in den Metamorphosen Ausdruck verleihen will. Hierzu lässt er Pythagoras das Leitmotiv des Werks wiederholen (vgl. Metamorphosen I, 17 mit Metamorphosen XV, 252). Genau diese Funktion lässt auch Ransmayr Pythagoras spielen, denn im Roman schreibt er auf Fetzen und Wimpel Ovids Worte: "Keinem bleibt seine Gestalt." (S. 15)[5]. Ebenso teilt Ransmayrs Figur Herkunft und Schicksal des ovidischen Pythagoras (S. 251), glaubt ebenfalls an die Seelenwanderung und hält vor dem Schlachthaus Ansprachen über die Schande der Fleischfresserei (S. 252).
Mit der Gestalt des Schlachters Tereus und seiner Frau Procne wird eine Geschichte der Metamorphosen nach Tomi gebracht[6]. Tereus missbraucht Procnes Schwester Philomela, schneidet ihre Zunge ab und versucht sich ihrer zu entledigen. Doch Philomela kehrt zurück und kann Tereus' Schuld bezeugen. Aus Wut tötet Procne ihren Sohn Itys. Tereus will den Verlust seines geliebten Sohnes rächen und jagt die beiden Schwestern. Jene aber verwandeln sich in Schwalbe und Nachtigall und fliegen davon, Tereus ihnen als Wiedehopf hinterher. Um dieses Schicksal einzubinden, verändert Ransmayr den Rahmen: Tereus ist kein König, sondern Schlachter, er sperrt Philomela nicht ein, sondern lässt sie einen Abhang hinunterstürzen, und schließlich servieren die beiden Frauen auch nicht den getöteten Itys seinem Vater zum Mahl, wie es in Ovids Mythos der Fall ist.
Diese Veränderungen sind bei den Episoden, die zwischendurch in der Letzten Welt erzählt werden, nicht nötig: Cyparis' Filme von Alcyone und Ceyx[7], von Hercules[8], Hector[9] und Orpheus[10] bieten dem Leser direkte Sichtfenster auf die Metamorphosen selbst, ebenso wie Echos Geschichte von der Sintflut, die nur Deucalion und Pyrrha überleben[11]. Icarus, der auf einem von Arachnes Webteppichen zu sehen ist[12], wird in der Letzten Welt nur am Rande erwähnt; ähnlich wie die Anekdote des Jägers Actaeon[13] und die Karnevalsmasken des Phoebus, Iuppiter und der Medea (S. 92) regen diese Nennungen zur Beschäftigung mit den Mythen Ovids an. Allen diesen Figuren ist gemein, dass sie im Roman nicht persönlich auftreten, sondern Fiktion innerhalb der Fiktion der Letzten Welt sind. Die einzige Ausnahme stellt Midas dar. In der Mythologie phrygischer König, ist der Protagonist aus Nasos Theaterstück bei Ransmayr ein Reeder aus Genua. Seine Eigenschaften, die Goldgier und Musikleidenschaft stimmen überein, ebenso wie sein Schicksal, der Fluch, alles in Gold zu verwandeln, was er berührt und die Verwandlung in einen Esel[14].

Einzelne Merkmale

Die meisten Bewohner Tomis weisen keine so große Übereinstimmung mit ihren ovidischen Namensgebern auf wie die Figuren aus den eingefügten Episoden. Allerdings kann man einzelne charakteristische Merkmale feststellen, welche die Verbindung zu den Metamorphosen herstellen.
Zum einen ist dies das Schicksal der Verwandlung wie bei Lycaon, Echo und Battus. Auch der Filmvorführer Cyparis träumt von einer Verwandlung in einen Baum, die er bei Ovid tatsächlich erlebt; als weiteres übereinstimmende Merkmal wird er von einem zahmen Hirsch begleitet. Iason fährt mit seinem Schiff Argo übers Meer, Arachne ist Weberin, und Fama, bei Ovid die Göttin des Gerüchts, wird entmythologisiert und vulgarisiert: sie führt in Tomi einen Kolonialwarenladen, in dem man sich zum Tratschen trifft. Auch die Herkunft verbindet Figuren der Letzten Welt mit ihren Vorbildern: Memnon ist Äthiopier, und die schöne Cyane stammt aus Sizilien.
Thomas Epple sieht eine weitere Gemeinsamkeit, nämlich Cyanes übergroße Trauer [15]. Diese Überlegung führt von den Offensichtlichkeiten weg, bei genauerem Hinsehen erkennt man so manche Ähnlichkeit, die man als von Ransmayr bewusst inszeniert interpretieren kann.
Besondere Beachtung in dieser Hinsicht verdient Thies. In den Metamorphosen der Herrscher der Unterwelt, arbeitet er in der Letzten Welt als Totengräber. Und darüber hinaus war er zuvor Soldat und hat die Vergasung vieler Menschen miterlebt (S. 261f.). Die Bedeutung der Erwähnung des Holocaust an dieser Stelle erfordert eine ausführlichere Betrachtung als sie mir in diesem Rahmen möglich ist, daher wird sie nur der Vollständigkeit halber hier aufgeführt. Die offensichtliche Verbindung zu den Metamorphosen tritt hier sogar in den Hintergrund, denn Thies ist auch in der ovidischen Dichtung der Gemahl Proserpinas und wird in beiden Werken als "Der Reiche" bezeichnet.
Weiterhin existieren gut verborgene Ähnlichkeiten der Figuren Ascaphalus und Marsyas mit ihren ovidischen Namensgebern. Ascaphalus, der Bernsteinhändler, bringt Nasos Testament nach Rom (S. 136). Die ovidische Figur wird von Proserpina in einen Uhu, in den "Vorboten künftiger Trauer", verwandelt.[16] In der Letzten Welt wird Marsyas von Tereus kopfüber in einen Trog geworfen, wo er beinahe ertrinkt (S. 181), in den Metamorphosen hängt ihn Apollo an den Beinen auf und zieht ihm die Haut vom Leib.[17] Beim Narrenumzug in Tomi trägt Tereus die Maske des Phoebus. Dieser Name besitzt jedoch zwei Bedeutungen: Einerseits wird damit der Sonnengott bezeichnet, andererseits ist dies jedoch auch der Beiname Apollos. Ransmayr spielt hier mit der Zweideutigkeit, indem er erklärt: "Der Schlachter wollte Phoebus sein." (S. 92).

Namensübernahmen

Keinen Bezug zu ihren ovidischen Vorbildern haben die Figuren Lichas und Phineus. Lichas, der in den Metamorphosen Hercules ahnungslos das vergiftete Hemd übergab, ist bei Ransmayr ein Missionar, der den Filmvorführer Cyparis vertreibt. Phineus, der gegen Perseus kämpft, wird zum reisenden Feuerschlucker, der in Tomi als Schnapsbrenner endet.

Naso

Publius Ovidius Naso, so der vollständige Name des römischen Dichters, spielt eine zentrale Rolle in der Letzten Welt. Nach ihm sucht Cotta, nach Lebenszeichen oder zumindest seinem Vermächtnis, den Metamorphosen. Er selbst taucht im ganzen Roman nicht persönlich auf, alle Informationen, die der Leser bekommt, stammen aus zweiter Hand: Rückblenden aus Cottas Erinnerung oder Erzählungen der Bewohner Tomis. Als einzige direkte Äußerung Nasos ist nur die Inschrift in seinem Garten geblieben (S. 50f.). Sie ist eine zusammengefasste Übersetzung des Nachworts der Metamorphosen.[18]
Die Figur Naso in der Letzten Welt ist kein exaktes historisches Abbild des Dichters. Vor allem der angeführte Grund seiner Verbannung, die gesellschaftskritische Rede im Stadion und vor allem das Ignorieren der korrekten Anrede des Kaisers, darf historisch bezweifelt werden. Offiziell ist über den Grund der Verbannung überliefert, dass Augustus durch Ovids Liebeslyrik einen schamlosen Sittenverfall fürchtete, bis in die heutige Zeit wird jedoch spekuliert, ob der Dichter nicht Mitwisser einer Intrige oder in einen Skandal verwickelt war.[19]
Historisch überliefert sind jedoch die äußerlichen Merkmale Ovids (der durch die Form seiner Nase den Rufnamen "Naso" annahm) und die Biographie, ebenso die Verbrennung der Metamorphoses durch den Dichter bei seiner Verbannung. Ransmayr spinnt jedoch um diese Eckpunkte sein feines Netz der Fiktion. Besonders deutlich wird es anhand der Tatsache, dass in der Letzten Welt die Metamorphosen nicht mehr als Schriftstück existieren.

Figuren aus den Epistulae ex Ponto

Cotta

Der Cotta der Letzten Welt hat sehr wenig mit dem historischen Dichter und Redner Cotta Maximus Messalinus gemeinsam, an den sechs Briefe Ovids aus der Verbannung adressiert waren und der von den Geschichtsschreibern Plinius und Tacitus erwähnt wurde.[20] Ransmayr entwirft seinen Protagonisten ohne Vorlage, nur den Namen sucht er aus den Epistulae.
Mit der Figur Cottas zeichnet Ransmayr die wohl tiefgreifendste Verwandlung seines Romans. Zunächst als Fremder in Tomi, als Römer, wird er von den Bewohnern allmählich akzeptiert ("[...] begannen sie Cotta für einen der Ihren zu halten, grinsten ihm zu und fühlten sich mit ihm vertraut" S. 154) und wird schließlich einer von ihnen, indem er Lycaons Nachfolge antritt (S. 248f.). Nach und nach legt er seine römische Mentalität ab, nach Antworten zu suchen, und akzeptiert die Wirklichkeit Tomis (" Der quälende Widerspruch zwischen der Vernunft Roms und den unbegreiflichen Tatsachen des Schwarzen Meeres verfiel" S. 241)
Diese Veränderung der Wahrnehmung lässt Cotta noch ein ganz anderes Faktum erkennen. Er hat die Metamorphosen gefunden, er befindet sich in ihnen, die ganze Welt um ihn herum in Tomi ist die Wirklichkeit der Metamorphosen. ("Was nun geschah, war nur die Erfüllung dessen, was längst auf den Fetzen und Wimpeln von Trachila geschrieben stand" S. 284, "Die Erfindung der Wirklichkeit bedurfte keiner Aufzeichnung mehr" S. 287)
Volker Hage wirft in seinem Essay Mein Name sei Ovid[21] die Frage auf, ob Cotta zu Naso geworden sei. Diese Frage vermag er nicht zu beantworten, und auch an dieser Stelle würde eine ausführliche Darlegung aller Indizien für und wider diese Theorie den begrenzten Rahmen sprengen. Aber aufgrund der Tatsache, dass Ransmayr Cotta den Weg gehen lässt, den Naso gegangen ist, ohne dass dies historisch verbürgt ist, und ihn zu einer zentralen Figur innerhalb der neu interpretierten Metamorphosen macht, will ich diese Überlegung nicht kategorisch von der Hand weisen.

Augustus und Tiberius

Die Figuren der beiden Kaiser Augustus I und seines Nachfolgers Tiberius (als Augustus II Kaiser von Rom) werden von Ovid in den Epistulae ex Ponto nur kurz erwähnt. Für die Charakterisierung der Figuren verwendet Ransmayr historisch überlieferte Fakten[22], beispielsweise die Erhebung Augustus' in den Götterstand kurz nach seinem Tod. Fiktion ist hingegen die Wahl des Nashorns als Herrschaftszeichen des Kaiserhauses (S. 126) anstelle des Löwen als überliefertes Symboltier. Ein symbolischer Schachzug Ransmayrs, um den römischen Staatsapparat darzustellen, der von Ralf-Peter Märtin[23] und Thomas Epple[24] näher betrachtet wird.

Schlusswort

An vielen Stellen wird deutlich, dass diese Betrachtung der Verbindungen zwischen der Letzten Welt und den Metamorphosen nicht komplett sein kann. Vielmehr ist diese Arbeit als Einstieg in die Welt des Arrangeurs Christoph Ransmayr zu sehen, der die verschiedenen Aspekte von Ovids Meisterwerk in seinen Roman zu integrieren weiß.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt. Roman. Mit einem ovidischen Repertoire. 11. Auflage. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1991.

Sekundärliteratur

Ovid: Metamorphosen. In deutsche Prosa übertragen, sowie mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Ovid, Anmerkungen, einem Verzeichnis der Eigennamen und bib-liographischen Hinweisen versehen von Michael von Albrecht. 8. Auflage. Mün-chen: Wilhelm Goldmann Verlag 1981.
Epple, Thomas: Christoph Ransmayr: "Die letzte Welt". München: Oldenbourg 1992 (= Oldenbourg Interpretationen Bd. 59)
Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Hg. Von Uwe Witt-stock. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1997

1 Epple, Thomas: Christoph Ransmayr: "Die letzte Welt". München, Oldenbourg 1992 (Oldenbourg Interpretationen Bd. 59) S. 85
2 Epple, S. 17f.
3 Ovid: Metamorphosen XV, 60-478. München: Goldmann Verlag 1981.
4 Metamorphosen XV, 459-463
5 Ransmayr, C.: Die letzte Welt. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1991.
Bei allen folgenden Seitenangaben im Text wird auf diesen Roman Bezug genommen.
6 Metamorphosen VI, 412-674
7 Metamorphosen XI, 410-748; Die letzte Welt, S. 26-39
8 Metamorphosen IX, 152-175; Die letzte Welt, S. 107f.
9 Metamorphosen XII, 591-592; Die letzte Welt, S. 107
10 Metamorphosen XI, 1-42; Die letzte Welt, S. 108
11 Metamorphosen I, 254-416; Die letzte Welt, S. 162-169
12 Metamorphosen VIII, 223-235; Die letzte Welt, S. 197
13 Metamorphosen III, 155-253; Die letzte Welt, S. 23
14 Metamorphosen XI, 100-131, 175-194; Die letzte Welt, S. 55f.
15 Epple, S. 86
16 Metamorphosen V, 533-551
17 Metamorphosen VI, 382-400
18 Metamorphosen XV, 872-881
19 Die letzte Welt, aus dem ovidischen Repertoire
20 Die letzte Welt, aus dem ovidischen Repertoire
21 Hage, Volker: Mein Name sei Ovid. S. 99. In Die Erfindung der Welt. Hg. Von Uwe Wittstock. Frankfurt/Main. Fischer 1997
22 Die letzte Welt, aus dem ovidischen Repertoire
23 Märtin, R.-P.: Ransmayrs Rom, S.116f. In Die Erfindung der Welt. Hg. Von Uwe Wittstock. Frankfurt/Main. Fischer 1997
24 Epple, S. 72f.

(c) 2000-2004 by [ Chris Gosse ], letztes Update 09-01-04

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