Willkommen in Khunchom

Rondras Zorn

Nachdenklich betrachtet Gwynna das knisternde Lagerfeuer und stochert mit einem Stöckchen in der Glut herum. Schon seit einigen Monden ist dies hier - ein kaltes und feuchtes Lager unter freiem Himmel - zu ihrer Heimat geworden. In den Sommermonaten war es erträglich, man konnte lange noch am Feuer sitzen, Geschichten hören und in den klaren Sternenhimmel blicken, aber jetzt, da Gevatter Firun langsam gen Süden zieht, um das Land nach und nach mit seinem kalten Bett zu bedecken, wird es ungemütlich. Schon in wenigen Wochen wird eine Schneedecke auf den Feldern liegen. "Warum habe ich den kalten, unruhigen Schlafsaal der Burg gegen dies hier getauscht?" fragt sie sich still.
Sie schüttelt den Kopf, diese Frage hat sie sich schon einige Male gestellt, und die Antwort weiß sie auch. Gwynna wendet sich nach links, wo eine Gestalt im Schlafsack eingepackt langsam und gleichmäßig atmet. Gero war es, der ihr Herz verzauberte und sie dazu bewog, ihre Ordensschwestern hinter sich zu lassen. Gero, der tobrische Offizier, der junge, entschlossene Mann mit den braunen Locken und den unglaublich sanften und tiefgründigen Augen...
Sie hatten sich in einer Herberge in der Nähe von Warunk kennengelernt, als Gwynna auf einem Botenritt war. Und trotz ihrer anfänglichen Ablehnung hatte Gero nicht nachgelassen und um sie geworben. Er behandelte sie wie eine Dame - dabei war sie doch erst 15 Sommer alt gewesen. Gwynna gefiel das, denn ihre Schwestern auf Burg Löwenstein hänselten sie, die Nachzüglerin, die "Kleine".
Es blieb nicht bei diesem einzigen Treffen, sie verabredeten sich und trafen sich regelmäßig. Gero war ein sehr angenehmer Partner, Sie liebte seine Gegenwart. Er schenkte ihr seine ganze Aufmerksamkeit und schaffte es, ihr die schönsten Stunden ihres Lebens zu geben. Es war eine Freude, mit ihm zu reiten und lachend alle Verpflichtungen zu vergessen - nur für ein paar Stunden.

Gwynna schreckt aus ihren Gedanken hoch und läßt instinktiv den Stock fallen. Das Feuer hatte ihn entzündet und brannte sich hinauf zu ihrer Hand. Entgeistert beobachtet sie, wie das Stöckchen vom Feuer verzehrt wird. Sie steht auf und geht langsam um das Feuer zur anderen Seite des Lagers. Beim jedem Schritt durchfährt sie ein stechender Schmerz, die tiefe Wunde in ihrem linken Oberschenkel ist noch nicht verheilt.
"Bei Rondra, ich habe nicht nur meine Schwestern im Stich gelassen, sondern auch meine Herrin!" seufzt sie leise, als sie vorsichtig den Verband fühlt. "Und jetzt läßt sie mich im Stich." Gwynnas Gesichtszüge verhärten sich. Es mußte ja so kommen, Rondra ist ihr nicht mehr gewogen.
Ihre Liebschaft blieb nicht lange unbemerkt, da ihre gehässige Schwester Idra einen Liebesbrief von Gero in Gwynnas Gepäck fand. Das war eine Katastrophe: Gwynna mußte sich vor der Burgherrin verantworten und wurde vor die Wahl gestellt, entweder Gero zu verstoßen, oder die Gemeinschaft zu verlassen.
Auf ihrer nächsten Reise wollte sie Gero ihren Entschluß mitteilen, doch als sie ihm gegenüberstand, konnte sie es nicht. Gero war doch derjenige, der sie achtete, der sie verstand. Schweren Herzens entschied sie sich damals für Gero und gegen ihre Schwestern.
"Damals..." Gwynna haucht das Wort leise und andächtig. Damals ist noch gar nicht lange her, erst vier Monde. In dieser Zeit war sie ständig mit Gero zusammen. Er, der Kavallerieleutnant nahm sie auf, aber quittierte ihr zuliebe schon bald den Dienst. Frei wollten sie sein, ungebunden, die Welt erkunden und aufregendes erleben.

Doch jetzt hat sich Rondra gegen sie gewandt! Zuerst diese Begegnung mit ein paar Goblins vor vier Wochen, damals zerbarst ihr Schwert, doch mit etwas Glück konnte sie den ungestümen Goblin überwältigen. Das mußte das letzte Zeichen Rondras gewesen sein. Doch sie hatte es ignoriert, ihre Göttin ignoriert...
Und vor wenigen Tagen lauerten einige Wegelagerer ihnen auf, vier an der Zahl. Üble, gottlose Gestalten, die nicht einfach nur rauben wollten... Nein, sie wollten morden!
Ohne Vorwarnung sprangen sie aus dem Gebüsch und zerrten sie von den Pferden. Gero konnte einen von ihnen mit dem Stiefel treten, so daß dieser liegenblieb, aber Gwynna wurde zu Boden gerissen. Sie konnte sich kaum den Angriffen der beiden Räuber erwehren, die sich sofort auf sie stürzten. Nur dem beherzten Eingreifen Geros war es zu verdanken, daß sie sich entwinden konnte, um auf die Beine zu gelangen. Doch als sie wieder einen Angriff abwehren wollte, stürzte sie unglücklich und rammte sich ihren eigenen Säbel ins Bein.
Welche Schmach... hilflos und schwer verwundet von der eigenen Klinge... Gero schaffte es jedoch, die anderen drei auch in die Flucht zu schlagen, so daß sie noch einmal Golgari entkommen konnte.

"Rondra... ich... ich habe Dich verachtet, ich habe Dein Andenken verunglimpft und geglaubt..." Gwynna stockt, Tränen treten in ihre Augen. Sie kann nicht alleine auskommen, ihr Leben gehört Rondra... Ohne Rondras Segen ist sie ein Nichts!
Mit dem Handrücken wischt sie sich über die Wange. Rondra ist zornig, aber noch ist nicht alles vorbei. Noch kann sie sich entscheiden, für Rondra, ihrer Herrin, der ihr Leben damals geweiht wurde.
Mit einem Seufzer läßt Gwynna sich auf ihr Lager plumpsen. Neben ihr grunzt Gero und dreht sich auf die Seite. Gwynna blickt zu ihm. Gero war die Ursache. Er ist ein guter Mann, aber er steht zwischen ihr und Rondra. Er war der Auslöser, daß sie jetzt hier sitzt, von ihren Schwestern verstoßen, von ihrer Göttin abgewandt.
Wieder wischt Gwynna sich eine Träne aus dem Auge und betrachtet, wie sie an ihrem Handrücken herunterläuft. "Was tue ich?" fragt sie sich leise. "Ich sitze hier und jammere wie ein kleines Mädchen! Wie ein unreifes, mutloses Ding!" Zorn steigt in ihr auf, Zorn gegen sich und ihr Verhalten.
Rondra lehrte sie, mutig und furchtlos zu handeln. Keine Angst zu zeigen, aber nun sitzt sie wie ein Häufchen Elend auf dem nassen, kalten Boden. Das muß ein Ende haben. Seit der Zeit mit Gero... ja, seitdem sie Gero kennt, hat sie so seltsame Gefühle von Schwäche, von Liebe und von Abhängigkeit. Doch eine Amazone, eine Tochter Rondras kennt nur die Zuneigung zu ihrer Göttin. Gero ist schlecht für sie, und Rondra hat es erkannt. "Ich muß ihrem Ruf folgen!"

Mit einem Ruck steht Gwynna auf und beginnt, hastig ihr Lager zusammenzupacken. Zornesfalten stehen auf ihrer Stirn, und ihr Blick wird durch einen Schleier Tränen getrübt. "Es ist vorbei! Rondra gehört mein Leben, nicht Gero, nicht einem Mann!" schwört sie leise.
Nachdem sie ihre Wolldecke zu einem kleinen Bündel zusammengeschnürt hat, tritt sie zu den Pferden. Aram, der treue Begleiter, ihre letzte Erinnerung an die Zeit als Amazone hat offenbar von ihrem Vorhaben geahnt. Der junge Warunker scharrt mit den Hufen und schnaubt, als Gwynna zum Sattel greift. "Psstt..." beruhigt sie das Pferd und schaut sich um. Doch Gero schläft immer noch. Sehr gut!
Sie sattelt auf und bindet Aram los, als plötzlich Bewegung in den schlafenden Gero kommt. Er rollt wieder auf die andere Seite und murmelt etwas. Dann schlägt er die Augen auf.
"Gwynna? Was ist los?" fragt er schläfrig. Die Angesprochene jedoch erwidert die Frage nicht, sondern bindet wortlos die Rolle mit dem Schlafsack an den Sattel. Bei allen Niederhöllen, denkt sie, warum mußte er aufwachen...
Unschlüssig, was sie jetzt tun soll, wendet sie sich ab. Gero indessen legt seinen Schlafsack ab und stürzt auf sie zu. "Was machst Du? Bist Du wahnsinnig geworden, bei allen Göttern?" - "Ich... Gero..." Gwynna stockt und starrt Gero an, der mit entgeistertem Blick die Zügel Arams greift. "Gero, ich kann nicht bei Dir bleiben!"

Sofort fällt der Schlaf aus Geros zugekniffenen Augen, als er sie weit aufreißt. "WAS sagst Du? Was ist mit Dir? Gwynna?..." Mit der Rechten, versucht er, ihr über die Wange zu streichen, an der eine Träne herunterläuft, doch sie schlägt seinen Arm beiseite. "Laß mich!" Gwynna schüttelt ihren Kopf, daß ihre blonden Haare umherfliegen.
"Was hat das zu bedeuten?" Geros Unverständnis weicht einem kritischen, mißtrauischen Blick. Seine braunen Augen liegen auf Gwynna, die immer nocht versucht, seinem Blick auszuweichen. "Schau mich an, Gwynna. Schau mir in die Augen und erzähle: Was geht hier vor?"
Schließlich schaut Gwynna auf, die Tränen in ihren Augen wurden durch einen entschlossenen Glanz verdrängt. Ihre Hände ballen sich zu Fäusten, als sie Gero ansieht. "Ich werde jetzt fortreiten und Du wirst mir nicht folgen. Von jetzt an trennen sich unsere Wege!" Sie macht eine Pause, um eine Reaktion abzuwarten. "Aber warum?" Gero scheint erschreckt von ihrer Entschlossenheit. "Was habe ich getan?" - "Mein Herz gehört Rondra! Ich habe ihr mein Leben versprochen!" - "Aber warum mußt Du mich verlassen? Sie ist doch..." - "Du oder sie, mein Herz kann ich nur einmal vergeben!"

Gero schluckt, deutlich hörbar, als würde er an einem zu großen Bissen würgen, und stolpert einen Schritt zurück. "Das heißt, es ist aus?" bringt er gepreßt über die Lippen. Gwynna nickt stumm und wendet sich zu Aram. Sie sitzt auf und schaut noch einmal zurück. Es ist Zeit für den Abschied. Doch Gero hat sich zusammengekauert und starrt ins Feuer. Er ist am Boden zerstört, so hat sie ihn noch nie erlebt. Was soll sie jetzt tun? Was soll sie ihm zum Abschied sagen?
Gwynna stockt, ihr Blick ruht auf Gero und sie öffnet den Mund. Doch sie bringt kein Wort über die Lippen... nicht einmal einen kurzen Gruß.
Schließlich zieht sie kurz am Zügel und gibt Aram mit einem kurzen Druck der Stiefel das Signal zum Abmarsch. Langsam reitet sie in die Dunkelheit, schon bald ist das helle Mondlicht die einzige Beleuchtung. Gwynna weiß, daß sie Aram besser am Zügel führen sollte, aber sie muß möglichst schnell vom Lager wegkommen, weg von Gero, weg von dem Mann, der sich zwi-schen sie und Rondra stellte.
Die vielen Monde der Irrfahrt, die sie in Liebe zu Gero verbrachte, sind endgültig zu Ende. Wie eine reuevolle Sünderin will sie heimkehren zu Rondra und ihr Leben neu beginnen. Ihre Schwestern haben sie verstoßen, doch Rondra will ihr eine neue Chance geben, das hat sie signalisiert. "Ich bin bereit" murmelt Gwynna leise, als sie Aram auf den Karrenweg lenkt, dessen Befestigungssteine im Mondlicht glänzen.

(c) 2000-2004 by [ Chris Gosse ], letztes Update 09-01-04

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